Die Sagen

Dietrich von Reifenstein

«Zur Zeit, da noch das Faustrecht galt, hauste auf Reifenstein ein Ritter, der böse Dietrich. Die Trümmer seines Schlosses liegen auf dem hohen Jurapasse Wasserfällen, in der Basellandschaft. In der Nähe von Wasser­fällen zeigt man das Schelmenloch, eine berüchtigte Berghöhle, die ihre eignen Räubersagen zu erzählen hat. Alle Tage durchjagte Dietrich die Juraberge, und wenn er Nachts noch so ermüdet heimkam, so vermochte auch die Bitte seiner Tochter Bertha nicht, die Leute vor seinen Wuthaus­brüchen und Misshandlungen zu sichern.

Gingen an Feiertagen die Reigoldswyler-Bauern, die damals noch keine eigene Kirche hatten, zum Gottesdienste ins Dorf Bretzwyl, so rief er nur um so lauter sein Hallo, liess alle Hunde los und sprengte auf dem raben­schwarzen Hengst über die Schlosshalde hinab in die unbehüteten Felder. Ross und Reiter, Hirsch und Hund ging so durch die Saaten. Ein aufge­scheuchtes Reh flüchtete sich vor ihm in die dortige Hilariuskapelle, die gerade offen stand, weil eben der Priester die Jahrzeitenmesse hier las. Am Altare schützt es der Mönch gegen die anrennende Hunde-Meute, bis Dietrich eintritt und ruft:

Behalt im Himmel deinen Platz,

Lass im Wald mir meine Hatz;

Lässt du deine Glocken plaren,

Lass ich auch mein Waldhorn hören.

Und so fürchterlich er drauf ins Horn stiess, so gellend muss er bis heute durch die Gegend blasen, so oft ein Gewitter in der Nähe ist. Dann sieht man Ritterfräulein in sechsspännigen Wagen von der Ruine zum Kirch­weg von Titterten hinab fahren.»

D Rifestei-Jumpfere

 a) «Am Berge von Reigoldswyl nach Titterten zu steht die Ruine Reifen­stein. Dort lässt sich einmal im Jahre am Stillen-Freitag eine Jungfrau mit einem schwarzen Hündchen blicken. Als sie einst einem armen Manne von Arboldswyl einen grossen Schatz ausgebreitet hinlegte, wollte sich dieser die Sache so bequem als möglich machen und ging schnell in die gegen­überstehenden Gebüsche, um sich Tragstecken zu seiner reichen Last zu schneiden. Ebenso schnell kam er zurück, stürzte über Baumwurzeln, und da er ärgerlich in Flüche ausbrach, war von einem Schatze keine Spur mehr vorhanden.

Auch wäscht sich die Jungfrau alljährlich im Brünnlein drunten in der Wiesen-Ebene, und wiederum gelangt der zu ihren Schätzen, der sich dann nicht fürchtet, ihr die Zöpfe aufzuflechten und das wallende Haar zu strählen. Aber nicht bloss ihre Augen funkeln alsdann und blitzen, sie fängt auch an Feuer zu schnauben, während der Erlöser ihr die hellen Flammen aus den Zöpfen kämmen muss.»            

b) Unweit der zerfallenen Burg Rifenstein läuft ein klares Brünnlein. Einst liess sich eine weissgekleidete Jungfrau daran nieder. Ein Knabe aus Reigoldswil suchte in der Nähe Beeren und sah sie. Freundlich winkte ihm die Jungfrau, näher zu kommen. Er eilte auf sie zu und war geblendet von der kostbar geschmückten, schönen Erscheinung. Die Jungfrau lud den Knaben mit lieblicher Stimme ein, mit ihr in das zerfallene Schloss zu kommen. In einem unterirdischen Gemach liege eine mit blanken Talern gefüllte Kiste, die er als Geschenk erhalte. Diese Einladung wiederholte sie mehrere Male vergeblich. Dem Knaben wurde es angst und bange, und er rannte dem Dorfe zu. Seither hat man die Jungfrau nie mehr gesehen, und es ist auch niemand gelungen, den Silberschatz zu gewinnen.

c) Einisch isch en arme Reigetschwyler Burscht uf d Rifesteiflue. Wos süscht alti Muure und Gstrüpp gha het, trifft er e Brunnen a, und dra sitzt e schöni Jumpfere. Die het in gfrogt, öb er nit well ihres Hoor strehle. Dä Burscht het der Strehl in d Hand gno und isch e paar Mol dur das lang, goldig Hoor gfahre. Do ufs Mol hai si die Hoor in läbigi Schlängli verwandlet. Uf das hi isch er verschrocken und het der Strehl lo gheie. Do het die Jumpfere truurig gsait: «Wenn du mi fertig gstrehlt hät­tisch, weer i erlöst und du schröckli rych worde. Es wird jetz an däm Ort e Tanne wachse. Us deer wird emol e Wagle gmacht und der Erseht, wo drin lyt, cha mi erlöse.» Und druufabe isch si samt im Brunne ver­schwunde.

d) Das Schlossfräulein, von den Leuten Rifestei-Anneli geheissen, soll bei einem Brünnlein einen Goldschatz hüten. Wenn ihn jemand heben kann, wird er sein Eigentum sein. Dabei würde auch das Rifestei-Anneli erlöst. Aber es ist bis heute keinem gelungen.

Die Karfreitags-Erscheinung auf Rifenstein

a) «Am Charfreytag sonnet sich die ganze Gesellschaft (Fräulein und Edelleute vom Rifenstein), und legt viereckige Goldstücke auf mächtigen Tüchern an das Tageslicht.»

b) «In ganzen Gesellschaften ergehen sie sich droben am Charfreitag im hellen Mittag, lauter Leute in uralter Tracht, und legen viereckige Gold­stücke auf mächtig grosse Tücher in den Sonnenschein. Dies geschieht bei jenem grossen Fels, aus welchem die Reigoldswyler Hebamme alle neuge­borenen Kinder hervorholt.»

Schatzgräber auf Rifenstein

a) «In den Revolutionsjahren (um 1798) ward diesen Schätzen (auf Ri­fenstein) nachgewühlt, und das Christoffelgebet, um den Teufel zu bannen, wurde kräftigst ausgesprochen; aber ein paar eiserne Pfannenstiele und Topffüsse waren die ganze Bescherung des Menschenfeindes.»

b) Ein Schatzgräber wollte die Sagen („D Rifestei-Jumpfere“  und „Die Karfreitags-Erscheinung auf Rifenstein“) zu seinem Vorteil benutzen, und er fand leichtgläubige Mitarbeiter. Bald er­tönte in stiller Mitternachtsstunde auf den alten Burgtrümmern das kräf­tige Christoffelgebet. Die Arbeit des Grabens ging rasch vorwärts. Als man auf einen harten Gegenstand stiess, glaubte man schon im Besitze des Schatzes zu sein. Voll Freude rief ein Bäuerlein aus: «Potz Hagel, da hämmer’s!» Dem Geisterbanner blieb ein Drittel des Gebetes im Halse stecken; unwillig stampfte er mit dem Fusse und schrie: «Nei, du Kaib, jetz hämmer’s nüd!» Und damit zog er statt des erhofften Schatzes ein paar eiserne Pfannenstiele und Topffüsse aus der Grube. Das geschah vor nicht langen Jahren.

Die Rifenstein-Kutsche

a) «Dunkles Sagengewebe verbreitet sich über die Trümmer (des Schlosses Rifenstein). Wenn das Wetter sich ändern will, sieht man Fräulein und Edelleute in feurigem sechsspännigem Wagen umherzieh’n.»

b) «Zur Seite des Kirchweges, welcher von Titterten nach Reigoldswil führt, erhebt sich auf einem zackigen, einzeln stehenden Felsen die Burgruine von Reifenstein in romantischer Lage. Da mag vor Jahrhunderten auch ein frohes Leben in den Mauern gewesen sein. Aber die Zeiten ändern sich. Der Zahn der Zeit nagt übel an der ehemaligen Ritterwohnung. Aller Glanz und alle ehemalige Herrlichkeit ist dahin. Und doch kann dort alt und jung zu gewissen Zeiten noch gar Manches sehen. Wenn am blauen Himmelsgewölbe sich Wolken türmen und der Allmächtige von oben das Land wässern will, fahren aus den Mauertrümmern hoch zur friedlichen Sternenwelt empor Fräulein und Ritter in feurigem sechsspän­nigem Wagen. Das ist eine hehre Pracht. Alles glänzt und glitzert und funkelt wie köstliches Edelgestein. Aber sie ziehen nicht ein in die paradiesischen Gefilde des Himmels, wo die Seligen, nach einem Leben voll Mühe und Sorgen, ruhen in himmlischer Ruh. Eine Zeitlang fahren sie unter dem unbegrenzten Himmelsdom hin und her, dann kehren sie wieder in die Burgruine zurück.»

c) Eine alte Frau erzählte, sie sei einmal in den Rifenstein gegangen, um Himbeeren zu pflücken. Es war gegen Mittag, die Sonne schien heiss, kein Vöglein sang, und es war alles so still, dass man eine Stecknadel hätte fal­len hören. Aber wie es am Kirchturm zwölf Uhr schlug, fing es auf ein­mal an scharf zu wehen. Sie schaute in die Höhe, da sah sie das Wirbeln der Mäntel der Rifensteinritter in der Luft. Und im Holz jenseits des Ba­ches hörte sie das Wiehern der Rosse.

Der goldene Wagen auf Rifenstein

In Vollmondnächten soll eine Deichsel aus dem Burgfelsen herausragen. Wem es gelingt, mit zwei Ziegen den Wagen aus dem Felsen zu ziehen, ohne ein Wort zu sprechen und die Tiere anzutreiben, kommt in den Be­sitz des goldenen, mit Schätzen beladenen Wagens, den der Ritter bei einer Belagerung vergraben hat.

Die Hängebrücke beim Rifenstein

Zur Zeit, als die Burg noch bewohnt war, führte eine Hängebrücke über das Tal zum gegenüberliegenden Felskopf der Chline Baberte. Bei einer Belagerung der Burg seien die angreifenden Kriegsleute in grosser Zahl über die Brücke angestürmt, so dass sie unter der Last zusammenbrach.

Niesende Geister

a) Ein Mann kam nachts an der Platten vorbei. Da hörte er jemand nie­sen. Wie es hierzulande Brauch ist, rief er: «Hälf der Gott!» Der Unbe­kannte musste nun mehrere Male niesen, wobei der höfliche Reigoldswiler auch immer seinen frommen Wunsch anbrachte. Schliesslich wurde es ihm doch zu bunt, und er sagte beim zwölften Male: «Hälfterli am Chopf!» Da antwortete der Niesende: «Hättest du zum zwölften Male ‚Hälf der Gott‘ gesagt, so wäre ich erlöst gewesen. So muss ich noch hundert Jahre warten.» Und verschwunden war er.

b) Die Frau eines Bauern in Titterten lag schwer krank darnieder. Dieser suchte in später Nacht in Reigoldswil den Arzt auf. Als er um Mitter­nacht bei der Ruine Rifenstein vorbeikam, gesellte sich ohne Gruss ein Be­gleiter zu ihm und schritt eine Zeitlang stumm neben ihm her. Auf den freundlichen Gruss des Bauern hatte er keinen Bescheid getan. Nun musste der Unbekannte auf einmal kräftig niesen. «Hälf Ech Gott!» sprach der Bauer. Das geschah auch beim zweiten Male. Als aber der Unbekannte in seinem Schweigen verharrte und nicht einmal dankte, sondern ein drittes Mal nieste, sagte der Bauer einfach «Gsundheit!». Jetzt endlich fing der Fremde zu reden an: «Hättest du doch auch zum dritten Mal ‚Hälf Ech Gott‘ gewünscht, so wäre ich erlöst gewesen. Nun aber vergeht eine lange Zeit, bis ich wieder einem Menschen begegnen darf. Schau, da steht eine junge Tanne. Wenn sie gross gewachsen und umgehauen sein wird, macht man aus ihrem Holz eine Wiege. Erst dann, wenn der Knabe, der darein zu liegen kommt, ein erwachsener Mann ist, darf ich mich ihm nähern und darauf warten, ob er mich erlösen wird.» Darauf verschwand der Ruhelose.

Der Schimmelreiter

Manchmal sehen Leute einen Reiter auf einem Schimmel am Wolbächlein dorfwärts reiten. Wenn er beim Haus «zum Rifenstein» angelangt ist, ver­schwindet er. Die Erscheinung soll immer eine Wetteränderung anzeigen.

Das schwarze Männlein

Meine Grossmutter begleitete einst als kleines Mädchen zusammen mit einer Gespielin ihren Vater, der einen Karren voll Schutt in den Rifen­stein führte. Plötzlich erblickte das Kind auf der anderen Seite des Wol­bächleins ein kleines, kohlschwarzes Männlein, das bei einem Baumstrunke stand. Die anderen sahen nichts; das Mädchen musste aber von seinem Va­ter heimgetragen werden, und längere Zeit hinkte es.

Comments are closed.